Der Somalische Film

Von Peter Böhm · · 2002/09

Viele Somalis konsumieren Khat. Die Droge und die Auswirkungen des Bürgerkrieges brachten einige Menschen in psychiatrische Anstalten. Peter Böhm besuchte ein Krankenhaus in Hargeisa.

Jeder, der schon einmal in Somalia war, weiß, dass die Droge Khat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Bürgerkrieg hatte. Es gab eigentlich keinen Milizionär, der die amphetaminhaltigen Blätter nicht kaute. Und außerdem war mir aufgefallen, dass sich viele Somalis gegenseitig für verrückt erklärten. Zu diesen beiden Themen, dachte ich, konnte mir am besten ein Psychotherapeut oder ein Psychiater etwas sagen, und als ich in Hargeisa, im Nordwesten des Landes, war, ging ich deshalb ins staatliche Krankenhaus.
Dort traf ich Dr. Mohamed Abdurrahman, den Chef der psychiatrischen Abteilung. Der Mann in den frühen Vierzigern trug Jeans und T-Shirt, aber keinen Arztkittel. Er begrüßte mich sehr freundlich, fast überschwänglich, und führte mich in das Büro des Chefarztes. Meine Frage, welche Folgen der Bürgerkrieg auf seine Arbeit hat, schien ihn zu belustigen. Er lachte. Und seine Aufzählung, „Die Kinder haben Alpträume, zwanghaft wiederkehrende Erinnerungen; der Bürgerkrieg ist eine niederschmetternde Erfahrung; die Leute werden gewalttätig, haben schwere Depressionen; jeder hat unter irgendwelchen Folgewirkungen zu leiden; viele Leute sind noch immer im Krieg. Sie laufen mit einem Besenstiel in der Stadt herum und schießen auf jeden, der ihnen über den Weg läuft“, trug er eher im Tonfall eines Rezepts für ein schmackhaftes Gericht als einer Liste psychischer Phänomene vor. Dr. Mohamed schien die Frage für unnötig, die Antwort für zu selbstverständlich zu halten. Dr. Mohamed hatte nicht übertrieben. Psychische Störungen wegen des Bürgerkrieges sind in Somalia sehr weit verbreitet. Das konnte Dr. Hussein Bulhan bestätigen. Er wurde in den Vereinigten Staaten als Psychiater ausgebildet und praktiziert seit ein paar Jahren in Hargeisa. Eigentlich jede Großfamilie in Somaliland hat einen solchen Fall zu beklagen, sagte er mir. In vielen Häusern müssten gewalttätige Patienten an Fensterkreuzen und Möbeln festgebunden werden, um sich selbst und ihre Familien zu schützen.

Dr. Mohamed hatte mich inzwischen ins Büro des Chefarztes geführt und hinter dessen großem Schreibtisch an der Stirnseite Platz genommen. Er musste noch mehr Leuten Bescheid gesagt haben. Denn nach und nach kamen nun mehr Ärzte und Krankenhausangestellte in das Büro. Nach zehn Minuten waren der Konferenztisch und die abgenutzten Sofas an den Wänden fast vollständig besetzt. „Hier ist jemand, der etwas über die Folgen des Bürgerkrieges wissen will“, rief Dr. Mohamed lachend in die Runde, so als sei das besonders witzig, dass sich jemand für seine Arbeit interessiere, und forderte seine Kollegen auf, etwas über ihre eigenen Erlebnisse zu berichten. Dr. Omar aus der chirurgischen Abteilung erzählte vom 31. Mai 1988, einem Tag der schweren Bombardierung von Burao. Dr. Mohamed probierte währenddessen in dem durch Jalousien abgedunkelten Büro seine Sonnenbrille aus. „Die Artillerie beschoss die Stadt von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Ich arbeitete in einem Feldlazarett der Rebellen, draußen im Busch. Es gab zwei aufeinander folgende Fliegerangriffe auf die Stadt.“ Der eine Bügel der Brille war offensichtlich abgebrochen. Er fiel herunter. Dr. Mohamed schielte zur Freude seiner Kollegen durch die schief sitzende Brille. „Bei einem wurde meine 16-jährige Schwester getötet“, fuhr Dr. Omar fort. „Sie wurde unter den Trümmern einer Hütte in unserem Hof begraben. Dort liegt sie noch immer.“
Offensichtlich war damit zum Thema kriegsbedingte Folgen alles gesagt. Also fragte ich, welche Folgen der Khat-Genuss hat? Das Thema schien viel mehr Spaß zu machen. Jeder wollte nun mitreden, weil fast alle kauten, und wenn einer der Ärzte eine der Folgen erwähnte, dann sagte jemand sofort unter den Lachern aller, „Ja, das kenne ich !“ oder „Ja, das hatte ich auch schon!“. Die Runde nannte folgende Wirkungen: Euphorie, kein Appetit, keine Müdigkeit, Schüttelfrost, sexuelle Erregung aber keine Potenz, Selbstüberschätzung, Schlafstörungen, akustische Halluzinationen, Alpträume und Depressionen. Es sei nicht selten, dass starker Khatgenuss auch Psychosen auslöse, sagte Dr. Mohamed und brach in ein wieherndes Gelächter aus. „Aber es gibt viele Leute in Hargeisa, bei denen ist sie einfach nur nicht diagnostiziert.“

Ein Freund in Bosasso, im Nordosten des Landes, hatte mir vom weit verbreiteten Verfolgungswahn unter den jungen Somalis, dem so genannten „Somalischen Film“, erzählt. Also fragte ich in die Runde, ob die Ärzte diesen Begriff auch kannten. Sie kannten ihn nicht. Aber nach meiner Erklärung, was damit gemeint ist, sagte Dr. Mohamed, das Phänomen sei in Hargeisa unter dem Namen „Bah“ bekannt. Wie? „Bah, Bah, Bah!“, antwortete er in seiner ungeduldigen Art. „Das Wort für Plastiktüte. Wegen des raschelnden Geräuschs, das sie macht, und das man hinter sich zu hören glaubt.“ Und einer der Verwaltungsangestellten platzte zur großen Heiterkeit der Runde heraus: „Das hatte ich gestern erst, als ich abends nach Hause ging, dass ich glaubte, es verfolgt mich jemand, es ist jemand hinter mir her.“

Dann lud mich Dr. Mohamed noch ein, die psychiatrische Abteilung anzuschauen. Sie war durch eine Mauer vom Krankenhaus getrennt. Im Hof stand ein auf Metallsäulen errichtetes Dach. Auf seinem Betonboden lagen einige Patienten auf dünnen Bastmatten. Zwei hatten Matratzen. Die Füße aller waren jeweils mit Ketten an den Säulen festgebunden. Ein Patient schlurfte in sich zusammengesunken über den Hof. Seine Kette und das dazugehörige Vorhängeschloss zog er am Fuß hinter sich her. Unter dem Vordach ihrer zwei lang gestreckten Gebäude waren mehr Patienten an Gitterfenstern angekettet.
Auch in diesen Räumen sah man den nackten Estrich am Boden und ein paar dünne Matratzen. Viele Patienten standen an den Fenstern, hielten sich mit ihren Händen an den Gittern fest und stierten mit leerem Blick ins Unendliche. Ihre Fesseln glänzten im morgendlichen Sonnenlicht, doch Dr. Mohamed hatte seine gute Laune nicht verloren. Er führte mich herum und stellte mich den PflegerInnen und PatientInnen vor. Als ich nach den Ketten fragte, sagte er, für gewalttätige Patienten seien sie einfach notwendig. Oft würden die von der Polizei gebracht, manchmal aber auch von Angehörigen, die sich nicht mehr zu helfen wüssten. Vor kurzem hatte eine Hilfsorganisation ein bisschen Haldol gespendet, ein auch in Europa gängiges Medikament. Aber ansonsten müssen die Verwandten die Arznei selbst mitbringen. Im Moment habe er insgesamt gut 100 PatientInnen in seiner Abteilung, sagte Dr. Mohamed, legte seinen Kopf in den Nacken und lachte, dass man seine großen Zähne sah: „Aber draußen sind noch Tausende mehr.“

Am nächsten Morgen ging ich noch einmal ins Krankenhaus. Aus Zufall traf ich Dr. Mohamed gleich draußen auf dem Gelände. Er sprudelte wieder vor guter Laune, lachte ein bisschen zu überdreht und führte mich wieder zielstrebig in die psychiatrische Abteilung. Beim Hinausgehen fragte ich ihn, ob er die Zustände in seiner Abteilung nicht schlimm finde. Natürlich ist die Behandlung in vielen öffentlichen Krankenhäusern in Afrika nicht gut. Das Geld ist überall knapp, und dass Patienten auf dem Boden liegen oder zwei in einem Bett, kommt schon einmal vor. Aber die neuen, glänzenden Ketten, mit denen die Patienten in seiner Abteilung gefesselt waren, hatten mich schockiert, und ich wollte ein Wort des Mitleids von ihm hören. Aber Dr. Mohamed sagte ohne erkennbare Gefühlsregung: „Es ist wie in jeder Abteilung des Krankenhauses. Wenn sie operiert werden wollen, müssen sie einen Angehörigen mitbringen, der ihnen Blut spendet.“
Und als wir vor das Haupttor des Krankenhauses traten, stand da ein alter Mann mit zerschlissenen Kleidern und struppigen, grauen Haaren. Dr. Mohamed begrüßte ihn und sagte zu mir in Englisch, aber so, dass es der Mann hören musste: „Wir gingen früher zusammen in die Schule. Aber dann hatte er ein kleines psychisches Problem.“ Dann lachte er hemmungslos, fügte aber schließlich versöhnlich hinzu: „Na ja, aber jetzt arbeitet er im Krankenhaus.“ Stimmte das? Die Kleidung des alten Mannes sah nicht danach aus. Oder war er vielleicht einer von Dr. Mohameds Patienten, und der hatte nur wieder einen seiner Witze gemacht? Wenn ja – das wusste ich jetzt zumindest – dann ging mir Dr. Mohameds Humor entschieden zu weit.

Peter Böhm arbeitete lange Zeit in Nairobi/Kenia als Korrespondent für die Berliner Tageszeitung „taz“, bevor er für ein halbes Jahr den afrikanischen Kontinent von Ost nach West durchquerte.

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